Frantz Fanon (1961). Über Gewalt.
In Die Verdammten dieser Erde.

Frantz Fanon (1925-1961), 1925 auf Martinique geboren, hat in Frankreich Philosophie und Medizin studiert. 1953 ging er als Arzt nach Algerien. Drei Jahre später trat er der algerischen "Nationalen Befreiungsfront" bei. 1961 erschien sein Buch "Die Verdammten dieser Erde".


Die von den Kolonisierten bewohnte Zone ist der von den Kolonialherren bewohnten Zone nicht komplementär. Die beiden Zonen stehen im Gegensatz zueinander, aber nicht im Dienste einer höheren Einheit. Beherrscht von einer rein aristotelischen Logik, gehorchen sie dem Prinzip des gegenseitigen sich Ausschließens: es gibt keine mögliche Versöhnung, eines der beiden Glieder ist zuviel. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen. Es ist eine erleuchtete, asphaltierte Stadt, in der die Mülleimer immer von unbekannten, nie gesehenen, nicht einmal erträumten Resten überquellen. Die Füße des Kolonialherrn sind niemals sichtbar, außer vielleicht am Meer, aber man kommt niemals nah genug an sie heran. Von soliden Schuhen geschütze Füße, während die Straßen ihrer Städte sauber, glatt, ohne Löcher, ohne Steine sind. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine gemästete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig voll von guten Dingen. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine Stadt von Weißen, von Ausländern.

Die Stadt des Kolonisierten, oder zumindest die Eingeborenenstadt, das Negerdorf, die Medina, das Reservat, ist ein schlecht berufener Ort, von schlecht berufenen Menschen bevölkert. Man wird dort irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwie, an irgendwas. Es ist eine Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer auf dem anderen, die Hütten eine auf der andern. Die Stadt des Kolonisierten ist eine ausgehungerte Stadt, ausgehungert nach Brot, Fleisch, Schuhen, Kohle, Licht. Die Stadt des Kolonisierten ist eine niedergekauerte Stadt, eine Stadt auf Knien, eine hingelümmelte Stadt...

Frantz Fanon. Die Verdammten dieser Erde.
Frankfurt am Main, 1966, S. 32.


Die Beziehung zwischen dem Kolonialherrn und dem Kolonisierten ist eine Massenbeziehung. Der Zahl setzt der Kolonialherr seine Stärke entgegen. Der Kolonialherr ist ein Exibitionist. Sein Sicherheitsbedürfnis führt ihn dazu, den Kolonisierten mit lauter Stimme daran zu erinnern: "Der Herr hier bin ich." Der Kolonialherr hält beim Kolonisierten eine Wut aufrecht, die er am Ausbrechen hindert. Der Kolonisierte ist in die engen Maschen des Kolonialismus eingezwängt. Aber wir haben gesehen, dass der Kolonialherr nur eine Pseudo-Versteinerung erreicht. Die Muskelspannung des Kolonisierten befreit sich periodisch in blutigen Explosionen: Stammesfehden, Cof-Kämpfe, in denen sich ganze Gruppen von Einheimischen aufreiben, und Schlägereien zwischen einzelnen. Auf der individuellen Stufe findet man eine wahre Negation des gesunden Menschenverstandes. Während der Kolonialherr oder der Polizist den Kolonisierten den ganzen Tag lang ungestraft schlagen, beschimpfen, auf die Knie zwingen kann, wird derselbe Kolonisierte beim geringsten feindlichen oder aggressiven Blick eines anderen Kolonisierten sein Messer ziehen. Denn die letzte Zuflucht des Kolonisierten besteht darin, seine Würde gegenüber seinesgleichen zu verteidigen. In den Stammesfehden leben die alten, in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Ressentiments wieder auf. Der Kolonisierte stüzt sich mit Haut und Haaren in derartige Racheakte und will sich dadurch einreden, dass der Kolonialismus nicht existiere, dass alles so geblieben sei wie früher, dass seine Geschichte einfach weitergehe. Wir haben es hier eindeutig mit einer kollektiven Form von Ersatzhandlungen zu tun. Brüder vergießen ihr Blut, als verhülfe ihnen ein solches Handeln dazu, das wahre Hindernis zu übersehen, die wahre Entscheidung zu vertagen, die auf nichts anderes hinauslaufen kann als auf den bewaffneten Kampf gegen den Kolonialismus...

Frantz Fanon. Die Verdammten dieser Erde.
Frankfurt am Main, 1966, S. 45.


Frantz Fanon. Über Gewalt. In Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main, 1966, S. 32/45. Online im Internet: URL: http://www.hyperghetto.de/texts/fanon/ueber_gewalt/


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